Seit einiger Zeit weiß ich sicher, dass mein Vater nicht mein Erzeuger ist. Zuvor wurden meine Bedenken, dass in meiner Familie nicht alles rundläuft, immer größer: Mit 13 fand ich Liebesbriefe von meiner Mutter, die nicht an meinen Vater adressiert waren. Ich sprach sie darauf an – und sie gab zu, dass sie eine Affäre mit einem anderen Mann hatte. Sie erzählte damals auch meinem Vater davon, er verzieh ihr – und damit war das Thema eigentlich erledigt.
Als ich auszog, ließen sich meine "Eltern" scheiden
Kurz danach kam meine Mutter mit dem Mann zusammen, dem sie damals Liebesbriefe geschrieben hatte, heiratete ihn sogar. So hatte ich natürlich auch mehr Kontakt mit ihm, er nannte mich irgendwann "mein Kind" – und wollte mich adoptieren! Das machte mich schon total misstrauisch. Schlimmer wurde es noch, als mich irgendwann mal seine Mutter bei einem Besuch anbrüllte: "Bastardkinder will ich nicht in meiner Familie haben!" Was war bloß in sie gefahren, warum dachte sie, dass ich zu ihrer Familie gehöre? Ich hatte doch gar nichts mit ihr zu tun! Das passte alles nicht zusammen, und ich kam mehr und mehr zu der Überzeugung, dass in meiner Familie ein Geheimnis vergraben liegt.
Wie im falschen Film
Also machte ich mich auf die Suche, versuchte herauszufinden, was da nicht stimmt. Ich fragte meine Mutter, wie lange das mit ihrem neuen Partner eigentlich in Wahrheit schon läuft – und sie gab zu, dass sie ihn bereits vor meiner Geburt kannte. Doch damals waren beide liiert und kamen nicht zusammen. Aber ihre Affäre blieb die ganzen Jahre bestehen. Ich fragte sie, ob dieser Mann auch mein Vater sein könnte, aber sie antwortete einfach nicht. Ich fühlte mich plötzlich wie in einem Film mit dramatischer Wendung. Ich wollte meinen Vater – oder vielmehr den Menschen den ich all die Jahre dafür gehalten hatte – , mit dem schrecklichen verdacht konfrontieren, dass er nicht mein Erzeuger ist. Ich setzte auch mehrmals an, bekam aber kein Wort über die Lippen. Er hatte die Ehe mit meiner Mutter längst abgehakt, und ich wollte ihn nicht aufwühlen.
Genetische Gemeinsamkeit war mir egal
Schließlich presste ich es aber doch heraus: "Ich glaube, du bist nicht mein Vater.“ Ich erzählte ihm von meinem Plan, einen Abstammungstest zu machen. Ich wollte endlich wissen, wer ich bin und woher ich komme! Und mir war klar, dass ich das alles selbst in die Hand nehmen musste, denn das Vertrauen in meine Mutter war angekratzt. Mein Vater verstand mich, aber er hatte auch Angst, dass sich durch das Ergebnis vielleicht alles zwischen uns verändern würde. Ich wusste jedoch, dass das auf keinen Fall passieren würde, er würde immer mein Papa bleiben. Er ist schließlich derjenige, der immer für mich da war, der mir Rad fahren beigebracht und mit mir im Fußballstadion gegrölt hat. Und das alles ist mir viel wichtiger als genetische Gemeinsamkeiten.
Ich war ein geplantes Kuckuckskind
Fünf Wochen nachdem wir gemeinsam Speichelproben abgegeben hatten, lag das Ergebnis in meinem Briefkasten. Ich drehte den Brief mehrmals in der Hand, bevor ich ihn öffnete. Ich hatte Angst vor diesem einen Satz: "Die Vaterschaft kann zu 99,9 Prozent ausgeschlossen werden." Und dann standen diese Worte wirklich darin, schwarz auf weiß! Katastrophe! Ich brach sofort in Tränen aus und schrie vor Wut. Meine Geburt war eine Lüge, meine Kindheit in der heilen Familie nur vorgegaukelt. Ich verlor von jetzt auf gleich den Teil meiner Familie, der mir lieb war, und gewann einen Teil dazu, der mir in all den Jahren nichts gegeben hat. Ich nahm mir einen Anwalt und reichte eine Vaterschaftsanfechtungsklage ein. Ich wollte endlich Recht und Ordnung in die Sache bringen. Meine Mutter erfuhr durch die Post vom Amtsgericht, was ich getan hatte, und sagte nur, sie sei froh, dass es endlich raus sei. Sie und ihr Liebhaber hatten damals sogar geplant, gemeinsam ein Kuckuckskind zu bekommen!
Meine Stimmung schwankte zwischen Wut, Überraschung und Verzweiflung. Ich versuchte, ihr zu erklären, wie schlimm es allein schon für mich war, mit meinem Vater überhaupt über das Thema zu sprechen, und wie schwer es mit jetzt fiel, zu begreifen, dass er gar nicht mein leiblicher Vater ist. "Ja, ich weiß, ich bin ein Schwein“, sagte meine Mutter da einfach nur lapidar. Dabei wäre es mir viel wichtiger, dass sie mir erklärt, warum sie das alles gemacht hat. Warum wollte sie ein Kind von einem anderen bekommen – und das dann verschweigen? Warum war sie so lange mit meinem Vater zusammen, wenn sie gleichzeitig eine Liebesbeziehung mit meinem Erzeuger führte? Warum hatte sie nie den Mut, es mir zu erzählen, oder meinem Vater?
Ich kann mir die Antworten nur zusammenreimen, denn sie will mir nichts erklären. Wahrscheinlich hat sie ihren jetzigen Partner immer schon mehr geliebt, aber weil der eben vergeben war, blieb sie bei meinem Vater, zog mich mit ihm gemeinsam auf. Und es lief ja auch super – einen besseren Vater hätte ich mir kaum vorstellen können. Dass der neue Lebenspartner meiner Mutter tatsächlich mein Vater ist, ist mittlerweile klar. Mit der Zeit erkannte ich an ihm auch Wesenzüge, die ich ebenfalls habe, von denen ich aber bisher nicht wusste, von wem ich sie habe. Wir sind zum Beispiel beide sturköpfige Kontrollmenschen. Und meine Großmutter väterlicherseits war Hutmacherin – und ich sammele seit meiner Kindheit Hüte. Jetzt weiß ich wenigstens, dass ich diese Leidenschaft von ihr geerbt habe. Das Verhältnis zu ihr hat sich aber nicht gebessert: Sie akzeptiert mich immer noch nicht, für sie bin ich die Rabenenkeltochter, weil ein anderer mich großgezogen hat. Das macht mich sauer, enttäuscht und einsam.
Ich hoffe nur, meine Mutter hat irgendwann den Mut, mir alles zu erklären.
Protokoll: Christine Dohler