Exklusiv

Karl Lagerfeld: Seine Schneiderin im exklusiven Interview über die Arbeit mit dem Designer

40 Jahre lang war Karl Lagerfeld ihr Boss – und als seine Atelier-Chefin schneiderte Anita Briey aus seinen Entwürfen Kleiderträume. Wie das Leben an der Seite des Modegenies aussah, verrät sie hier.

Interview: Kalle Schäfer

© KARLLAGERFELD
Vier Jahrzehnte lang ein eingespieltes Team: Karl Lagerfeld und Anita Briey.

Sie hat für die Lagerfeld-Ausstellung im New Yorker Metropolitan Museum of Art anhand alter Originalskizzen des Meisters zig Kleider gefertigt sowie aufgearbeitet. Nun, nach insgesamt fünf Monaten Arbeit, verspürt Anita Briey eine gewisse Müdigkeit, wie sie uns im Interview erzählt. Allerdings merken wir der 86-Jährigen davon nichts an. Beim Video-Call zwischen Paris und Hamburg plaudert Madame Briey munter – und mit Witz – über ihren Job, berichtet von Nächten im Atelier, erzählt, wie sehr sie Karl Lagerfeld mochte. Und wie das Wiedersehen mit den Supermodels Carla Bruni und Amber Valletta bei den aktuellen Fittings war...

Karl Lagerfeld hat immer behauptet, die Vergangenheit lasse ihn kalt – was würde er über die Ehrung durch das Metropolitan Museum of Art denken?

Es stimmt, solche Dinge sagte er regelmäßig. Aber ich denke, die Ausstellung sowie der Met-Ball, die dieses Jahr unter dem Motto Karl Lagerfeld stehen, sind eine so große Sache, dass selbst Karl sich vermutlich geschmeichelt gefühlt hätte.

Obwohl er sagte, es würde ihn kein bisschen interessieren, was die Nachwelt von ihm hält?

Wenn ihm etwas Freude bereitete, hat er es nie wirklich gezeigt, und nach außen wirkte er oft so ernst und brummig. Aber es gibt in Frankreich ein Sprichwort, das lautet "Nur Dummköpfe ändern ihre Meinung nicht". Insofern bin ich überzeugt, dass Karl ein bisschen stolz gewesen wäre.

Sie gehören zu den Menschen, die ihn beruflich am längsten begleitet haben – nämlich 40 Jahre.

Ja, ich lernte ihn 1966 kennen und blieb bis 2006 bei ihm. Dann ging ich in Rente. Aber er rief mich trotzdem ab und zu an und bat um meine Hilfe, etwa wenn es darum ging, bekannte Persönlichkeiten einzukleiden. Der Kontakt brach nie ganz ab.

Sie fingen als Näherin bei Coco Chanel an, arbeiteten dann für Lagerfeld bei Chloé und leiteten später das Atelier seines Labels KL.

Ja, er brachte mir seine Skizzen, und ich war mit meinem fabelhaften Team dafür zuständig, die Modelle daraus zu schneidern.

Ihre Karriere ist einzigartig, oder?

Ach, das würde ich nicht sagen. Ich kenne einige "petites mains", die sich emporgearbeitet haben. Eine von ihnen, die jetzt bei Chanel das Atelier leitet, hat sogar unter mir gelernt.

Apropos: Als Lagerfeld 1986 bei Chanel anheuerte, dachten Sie vermutlich, er nimmt Sie mit, oder?

Nachdem es sich bei Chloé herumgesprochen hatte, dass Karl uns verlässt, noch dazu, um bei Chanel anzufangen, habe ich mir zu träumen erlaubt: Oh, là, là, wie toll wäre das denn, wenn Karl mich fragt, ob ich mitkommen möchte? Doch er tat es nicht. Aber einige Wochen später fragte er mich, ob ich für sein eigenes Label KL arbeiten möchte. Und ich habe frohen Herzens zugesagt.

Wissen Sie, warum er Sie nicht mit zu Chanel nahm?

Bei einem Abendessen stellte ich ihm genau diese Frage, und er sagte nur: Anita, ich brauche Sie hier!

Sie haben unter Coco Chanel und mit Karl Lagerfeld gearbeitet – wer war der angenehmere Chef?

Na, das liegt doch wohl auf der Hand. (lacht) Karl, natürlich!

War Coco Chanel denn schwierig?

Oh ja! Als ich 1955 mit 16 bei ihr anfing, war sie schon recht alt. Und wie das so ist: Manche Menschen altern gut und manche werden bitter. Aber sie war nicht immer so. Im Atelier lernte ich Näherinnen kennen, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg bei ihr gearbeitet hatten. Damals war bezahlter Urlaub noch nicht die Regel, aber sie spendierte ihren Arbeiterinnen eine Woche Ferien an der Atlantikküste, in Mimizan. Was beweist, dass es eine Zeit gab, als sie durchaus Herz hatte.

Aber so haben Sie sie nicht erlebt?

Nein, Mademoiselle Chanel war sehr streng und sprach nicht mit ihren Untergebenen. Man bekam höchstens mal ein "Bonjour, mon petit" zu hören, aber das in einem unfreundlichen Tonfall. Nicht einmal mit den höheren Angestellten, etwa ihren Direktoren, pflegte sie einen netteren Umgang. Mit ihr war nicht gut Kirschen essen.

Dagegen war Lagerfeld ein Engel?

Er war zu allen nett, zur Putzfrau genau wie zur Näherin. Einmal im Jahr lud er uns alle zu einem Abendessen in sein Haus ein. Und wir bekamen Chanel-Handtaschen geschenkt, ausnahmslos. Er gab nichts auf Klassenunterschiede, was mir zeigt, dass er ein intelligenter Mensch war. Er war kultiviert und intelligent, und ich habe die Erfahrung gemacht, dass diese Mischung etwas sehr Seltenes ist. Er hatte wirklich ein Herz aus Gold!

Wissen Sie noch, aus welchem Anlass er Ihnen eine Brosche in Form einer kleinen Schere schenkte?

Nein, das nicht. Aber den Tag, an dem ich dachte, ich hätte sie verloren, werde ich nie vergessen. Ich bekam fast einen Herzinfarkt! Aber wie durch ein Wunder entdeckte ich sie abends auf dem Heimweg in der Metro ganz unten in meiner Handtasche.

In der Zeit, als Sie für sein eigenes Label arbeiteten, war Lagerfeld zusätzlich für die Kollektionen von Fendi und Chanel verantwortlich...

Und Sie dürfen nicht vergessen: Zu den vielen Kollektionen kamen ja noch seine Bücher, die Fotografie und all die öffentlichen Auftritte, die zahlreichen Interviews hinzu! Manchmal mussten wir sehr lange im Atelier ausharren, weil er bei Chanel zu tun hatte. Aber es verging kein Tag, an dem er nicht bei uns vorbeischaute.

Und sonntags gönnte er sich dann endlich eine Pause?

Also, einen Sonntag habe ich nie in seiner Gesellschaft verbracht. (lacht) Aber angesichts der vielen Skizzen, die er montags immer mitbrachte, vermute ich, dass er auch am Wochenende arbeitete.

Hand aufs Herz: Hatte Lagerfeld überhaupt keine Makel?

Doch, einen: Er neigte zu Unpünktlichkeit. Im Grunde kam er immer zu spät. Dabei heißt es doch, die Deutschen wären so diszipliniert. (lacht) Nun, in der Hinsicht war Karl es nicht. Aber wir haben ihm alles verziehen. Er war so charmant! Wenn er im Atelier aufkreuzte, herrschte sofort gute Laune, und dann ging die Arbeit noch mal so leicht von der Hand. Selbst wenn es spät wurde.

Das machte Ihnen nichts aus?

Nein, die Arbeit war ja mein Leben, und Karl habe ich zu verdanken, dass mein Leben ein Traum war. Ich weiß noch, als ich bei Chanel anfing, hatte ich eine junge Kollegin, die sich freitags immer auf das Wochenende freute. Ich hingegen sehnte stets den Montag herbei! (lacht)

DANK KARL WAR MEIN LEBEN EIN TRAUM

Anita Briey

Und was sagte Ihr Mann dazu?

Ach, der war und ist bis heute extrem geduldig. Er wusste, wie sehr ich meine Arbeit liebe. Damals hatten wir noch kein Telefon, und wenn ich mal wieder mitten in der Nacht nach Hause kam, wusste er ja, wo ich gesteckt hatte. Als man mich fragte, ob ich die Kleider für diese Ausstellung schneidern will, hat er mich sogar dazu ermuntert.

Waren Sie nicht gleich begeistert?

Ich muss gestehen, ich habe gezögert. Wissen Sie, ich bin eine alte Dame, und deshalb war ich mir nicht sicher, ob ich der Herausforderung gewachsen sein würde. Aber mein Mann sagte, wenn du Lust hast, dann mach es. Und wenn ich es nicht schaffe?, fragte ich. Ach was, meinte er, du schaffst das schon! Heute bin ich froh, dass ich zugesagt habe. Für Karl. Außerdem mag ich das Gefühl, noch zu etwas nütze zu sein.

Lagerfeld hielt sich mehr als 50 Jahre lang an der Spitze. Das ist, wenn überhaupt, nur wenigen Designern gelungen. Worauf führen Sie das zurück?

Auf sein Genie, natürlich. Und darauf, dass er gern tat, was er tat. Etwas zu kreieren, seine Entwürfe, die Arbeit im Atelier – das war sein Ein und Alles. Er hatte keine Kinder, genau wie ich – also ein paar Sorgen weniger, wie es so schön heißt. Deshalb konnte er sich ganz auf die Arbeit konzentrieren, die für ihn das reinste Vergnügen war.

Haben Sie jemals mitbekommen, etwa am Vorabend einer Modenschau, dass ihn Zweifel plagten?

Nein, unsicher oder zweifelnd habe ich ihn nie erlebt. Er war immer die Ruhe selbst. Für uns, seine Mitarbeiter, war es natürlich sehr angenehm, dass er so unbeirrbar war. Auch beim Zeichnen seiner Entwürfe gab es kein Hadern, die saßen fast hundertprozentig auf Anhieb. Dass er etwas korrigierte, kam praktisch nie vor.

Nahm er denn seine Sonnenbrille hin und wieder ab?

Das passierte auch äußerst selten.

Nicht mal im Atelier?

Da hob er sie höchstens ein bisschen hoch, wenn er etwas lesen musste. Bei Chloé habe ich ihn noch ohne Sonnenbrille erlebt, aber später waren die beiden unzertrennlich. (lacht) Dabei war er überhaupt nicht schüchtern. Ich denke, er hat die Sonnenbrille zu seinem Markenzeichen gemacht, wie den Zopf oder den Vatermörderkragen.

Die Kleider für den Met-Ball, die von Stars wie Cara Delevingne, Jared Leto und Carla Bruni getragen wurden, haben Sie anhand von Original-Skizzen nachgeschneidert. Mussten Sie die Maße abändern?

Na ja, hier und da eine kleine Retusche. Aber Carla Bruni beispielsweise hat sich ihre tolle Modelfigur bewahrt, und das Kleid steht ihr traumhaft gut. Ich kannte sie von früher, genau wie Amber Valletta, ebenfalls im Lagerfeld-Kleid. Als die beiden mich jetzt bei den Anproben hier in Paris wiedersahen, waren sie ganz erstaunt, es mit einer Omi zu tun zu haben.

Wollten Sie mit nach New York?

Klar, ich musste doch für die letzten Anproben vor Ort sein. Es gibt immer was zu tun, die Arbeit hört nie auf.

Was sagen Sie zur "Vogue"- und Modelegende Anna Wintour, die den Met-Ball ja organisiert?

Ach, die kenne ich schon, vom Sehen. Sie lacht nie. Und wirkt immer so... nun ja, Sie wissen schon. Für die bin ich bloß ein kleines Licht.