
Die Stimmung ist ausgelassen im Pony Club auf Sylt, als eine Gruppe junger Leute plötzlich Naziparolen grölt, manche strecken den rechten Arm zum Hitlergruß aus – und niemand greift ein, die anderen Gäste feiern weiter, als wäre nichts passiert. Die Wellen, die dieser Vorfall schlug, waren höher als die Brandung in Kampen. "Wie kann man da nur wegsehen?", empörten sich viele. Aber wenn wir uns mal an die eigene Nase fassen: Wie hätten wir wohl reagiert? Die Betrunkenen zurechtgewiesen? Wie verhalten wir uns denn, wenn wir im Alltag mit rassistischen Übergriffen konfrontiert werden? Wer jetzt sagt "So etwas ist mir noch nie passiert!", sollte unbedingt weiterlesen – denn laut Zivilcourage-Trainerin Silke Gorges(starkdurchsleben.de) scheitert Hilfeleistung häufig schon an dem mangelnden Bewusstsein für bedenkliche Situationen.
Welche Faktoren uns sonst noch am Eingreifen hindern und wie wir es trotzdem schaffen, über unseren Schatten zu springen und unsere Stimme zu erheben – sei es, um Betroffenen zu helfen oder um für unsere Werte und unseren Standpunkt einzustehen – erklärt die Expertin hier.
So kannst du dich gegen Alltagsrassismus einsetzen
Awareness, please!
Es mag so banal klingen, aber laut Silke Gorges ist der erste Faktor, der uns daran hindert, im Ernstfall einzuschreiten, schlicht und ergreifend die Tatsache, dass wir den Übergriff gar nicht mitbekommen. Man hört Musik, tippt am Laptop oder am Handy, ist mit den Gedanken ganz woanders oder in ein Gespräch vertieft. Darum: Wir müssen ja nicht gleich zu Else Kling aus der Lindenstraße werden, können aber trotzdem ein Gespür dafür entwickeln, was um uns herum vor sich geht. Reckt jemand auf der Tanzfläche den rechten Arm und wir sind uns nicht sicher, ob es sich um eine Nazi-Geste oder einfach nur um einen abgefahrenen Dance-Move handelt, sollten wir die Person noch ein wenig im Auge behalten, um die Situation dann richtig zu bewerten.
Ich gebe zu, es war nicht okay, dass ich die Passanten vor mir mit meinem Fahrrad bedrängt und wie wild geklingelt habe. Ich hatte die Bushaltestelle nicht gesehen. Und dass die Fahrgäste einfach nur ausstiegen, merkte ich erst an den bösen Blicken der Leute. Natürlich hielt ich in dem Moment sofort an und entschuldigte mich. Aber ein Mann hörte nicht auf, mich zu beschimpfen. Irgendwann wurde es mir zu blöd, ich stieg auf mein Rad, drehte mich noch einmal um, weil ich seine Pöbeleien hinter mir hörte und bemerkte, wie er seinen rechten Arm reckte, "Heil Hitler" rief! In dem Moment war ich so schockiert, dass ich gar nicht mehr klar denken konnte. Eigentlich hätte ich ihn zur Rede stellen und den Vorfall anzeigen müssen. Aber ich tat nichts. Die Menschen um mich herum schauten weg. Dabei hätte es mir in dem Moment schon geholfen, wenn mich jemand angesprochen und gefragt hätte, wie es mir geht...
Die Perspektive wechseln
Apropos bewerten: "Die Basis für Zivilcourage ist immer, dass wir uns unserer eigenen Werte bewusst sind", ist Silke Gorges überzeugt. Laut der Expertin basiert unsere Haltung idealerweise auf demokratischen Grundwerten wie Toleranz, Offenheit, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit – und diese sollten auch die Basis für eine Bewertung der Situation sein. Ist das, was ich hier beobachte noch okay oder wird gerade eine Grenze überschritten? "Viele Menschen scheitern schon daran, eine Situation überhaupt als übergriffig einzuschätzen", sagt die Expertin.
Ihr Tipp: Die Situation immer aus der Betroffenenperspektive betrachten – denn selbst wenn keine böse Intention dahintersteht, kann die betroffene Person ein Verhalten als übergriffig empfinden. "Wenn ich jemandem in den Afro fasse, nur weil ich neugierig bin und es gar nicht böse und diskriminierend meine, übertrete ich bei demjenigen trotzdem eine Grenze", erklärt Gorges. "Ich kann dann fünfmal sagen, dass es nicht rassistisch gemeint war – wenn die Person es als übergriffig oder rassistisch empfindet, dann ist es so."
Außerdem kommt die "Pluralistische Ignoranz" hinzu: Dieser Begriff beschreibt das Phänomen, das eigene Verhalten an die Mehrheit anzupassen. Das heißt konkret: Selbst, wenn wir eine Situation als nicht okay einschätzen, unser Umfeld aber nicht reagiert – dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass wir uns der schweigenden Mehrheit anschließen. "Je mehr Menschen dabei sind, umso niedriger ist die Chance, dass jemand eingreift", so Gorges. Darum ihr Appell: Nicht warten, was die anderen machen, sondern selbst aktiv werden.
"Warum hast du denn nicht den deutschen Namen deines Mannes angenommen?" Diese Frage musste ich mir seit meiner Hochzeit im September mehrmals anhören. Dabei kann ich gar nicht sagen, was mich wütender macht: Das Unverständnis im Bekanntenkreis, wie man denn freiwillig einen türkischen Nachnamen behalten kann – oder die Tatsache, dass dieses Erstaunen ja durchaus berechtigt ist. Mein Nachname war mein Leben lang ein Problem: in der Schule, an der Uni, im Job, im Alltag. Ob man sich auf eine Wohnung bewerben, einen Arzttermin vereinbaren oder im Restaurant einen Tisch reservieren möchte – mit einem türkischen Nachnamen ist es immer schwieriger, nicht selten wird man wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt. Und trotzdem: Es ist MEIN Name, Seit 35 Jahren. Und ich habe nicht eine Sekunde lang darüber nachgedacht, ihn abzulegen. Natürlich hätte ich es mit dem deutschen Namen meines Mannes sehr viel leichter – aber ich habe mich bewusst gegen den leichten Weg entschieden, weil es mir wichtig ist, zu meiner Herkunft zu stehen!
Verantwortung übernehmen
Sich verantwortlich zu fühlen, ist so eine Sache, wenn es um Zivilcourage geht. Denn neben der eben erwähnten "Pluralistischen Ignoranz" ist da auch noch die "Verantwortungs-Diffusion". Salopp gesagt: das Abwälzen der Verantwortung auf andere – im Falle der Sylt-Situation werden sich die anderen Gäste vermutlich gedacht haben: Sollen sich doch der DJ, das Servicepersonal oder der Türsteher darum kümmern! Hier gilt es, unser Mindset dahin gehend zu verändern, dass wir uns ALLE verantwortlich fühlen für das, was um uns herum geschieht. Das gilt übrigens auch, wenn ein Kollege im Meeting sexistische Sprüche klopft. Auch, wenn wir der festen Überzeugung sind, dass die Führungskraft den Chauvi zurechtweisen müsste, sollte uns das nicht daran hindern, selbst ein Machtwort zu sprechen.
Raus aus der Schockstarre
Mal ehrlich, das kennen sicher die meisten von uns: Man weiß, dass man jetzt eigentlich etwas tun müsste und ist auch gewillt – aber was ist denn jetzt das Richtige? Die Pöbler zur Rede stellen? Die Polizei rufen? Manchmal ist man in so einer Schockstarre, dass man gar nichts tut – und ärgert sich hinterher maßlos über sich selbst. Hinzu kommt oft noch Angst. Was, wenn ich durch mein Eingreifen selbst zur Zielscheibe werde?
"Man muss die Situation richtig einschätzen", rät Silke Gorges. "Es macht natürlich einen Unterschied, ob ich in einem Meeting sitze und ein Kollege einen dummen Spruch loslässt, oder ob ich einen gewalttätigen Übergriff in der U-Bahn beobachte." Hat man die Gefährlichkeit der Situation richtig eingeordnet, gilt es, kurz zu reflektieren: Was traue ich mir selbst zu? Von wem könnte ich Hilfe bekommen?
Meine Familie könnte nicht bunter sein. Mein Bruder ist mit einer Person of Colour verheiratet, meine Cousine mit einer Frau – und ich mit einem Koreaner. Rassistische Anfeindungen und Diskriminierung gehören für uns leider zum Alltag – bei uns in Hamburg äußert es sich eher im subtilen Alltagsrassismus, zum Beispiel, wenn wir demonstrativ an der Fleischtheke im Supermarkt ignoriert werden. Aber wenn wir meine Großeltern im Osten besuchen (sorry, es klingt wie ein schlimmes Klischee) ist das noch mal etwas ganz anderes: Als unser Sohn ein Baby war, wurde mein Mann auf einem Parkplatz angeschrien "Du Scheiß-Ausländer, du darfst hier nicht parken!" – und anschließend auch noch angespuckt. Diese Aggressivität hat mir große Angst gemacht. Dass wir unser Baby dabei hatten, hat die Situation noch brisanter gemacht. Denn da ist ja die Hemmschwelle sich zu wehren, noch mal viel höher. Aber es sind nicht nur diese Springerstiefeltypen, so etwas passiert auch in Kreisen, in denen man es nicht vermutet – siehe Sylt.
Im Zweifelsfall: Die Polizei lieber zu früh anrufen als zu spät! Außerdem macht es Sinn, sich mehrere Helfer zu suchen und diese gezielt anzusprechen: "Sie in der roten Jacke – ich brauche Ihre Hilfe!" Und auch was den Chauvi-Kollegen betrifft, kann man sich mit anderen Kolleginnen verbünden und sich gemeinsam vornehmen, im nächsten Meeting gegen den Typen vorzugehen. Gemeinsam ist man immer stärker!
Und wie hätte man laut Gorges im Sylter Pony Club am besten reagieren können? "Eine Möglichkeit wäre gewesen, den DJ anzusprechen – der hat hinter seinem Pult mit Sicherheit gar nicht mitbekommen, was da abgeht", sagt die Expertin. Und darf man so ein Geschehen eigentlich filmen – als Beweismaterial? "In eine Menschenmasse zu filmen ist nicht verboten – wenn es hart auf hart kommt, ist die Polizei für das Beweismaterial sogar dankbar." Wovon die Expertin allerdings dringend abrät, ist das Teilen in den sozialen Medien: "Damit tragen wir nur dazu bei, dass Videos mit bedenklichen Inhalten im Netz weiter verbreitet werden – und das wäre ja eher kontraproduktiv."
Realität vs. Social Media
Soziale Medien sind überhaupt ein wichtiges Stichwort: Durch Kommentare und Likes ist es hier nämlich viel einfacher Zivilcourage zu zeigen als im realen Leben – aber ist das wirklich ein Segen oder eher ein Fluch? "Social Media ist so schnelllebig und oft hat man gar nicht die Zeit, sich mit den Posts, die man likt oder teilt, wirklich auseinanderzusetzen", meint Gorges. Dafür muss man ja nur mal an "All Eyes on Rafah" denken – fast 50 Millionen Menschen, darunter auch viele Prominente, wollten mit einem Klick Stellung gegen den Gaza-Krieg beziehen und teilten in ihren Storys ein KI-Bild. Dass sie damit einen antisemitischen Account unterstützen, war wohl den wenigsten klar. "Hier sind wir wieder beim Thema Eigenverantwortung", sagt Silke Gorges, die dringend dazu rät, jeden Inhalt, den man in den sozialen Medien likt oder teilt, genau zu überprüfen.
Denn, ganz ehrlich, Zivilcourage bedeutet eben nicht nur, mal eben schnell einen Knopf zu drücken und ein Bild zu liken – auch wenn man dadurch natürlich erst mal das Gefühl hat, Stellung zu beziehen. Aber auch im echten Leben gilt: "Der gute Wille und das Bewusstsein über die Ungerechtigkeit oder die Einschätzung einer Handlung reichen nicht aus und lassen Betroffene trotzdem allein." Die GRAZIA- Redaktion ist sich jedenfalls einig: Wir werden in Zukunft helfen statt wegsehen!
Text: Michaela Puschmann / Verwendete Quelle: GRAZIA Magazin