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Girl Math macht nicht dümmer – sondern klüger

Ich habe den Überblick über meine Finanzen und verteidige hohe Ausgaben trotzdem mit dem Phänomen "Girl Math". Was hinter dem Trend mit geschlechterdiskriminierendem Titel steckt und warum diese Strategie der Rechtfertigung für mich dennoch legitim ist, erfährst du in meiner Kolumne "Cash is Queen".

drei stylische Frauen© Launchmetric Spotlights
Vor Freundinnen das neueste Fashion-Investment rechtfertigen? TikTok-Userinnen und auch ich nutzen dazu aktuell die Logik von "Girl Math". 

Ich liebe Fashion. Wenn ich gefragt werde, welches Kleidungsstück ich mir zuletzt zugelegt habe, muss ich auch nicht lange überlegen. Es ist eine schwarze Daunenjacke, deren Kauf bei den eisigen Temperaturen mehr als nötig war. Nun gut, ich habe eine ganze Bandbreite warmer Jacken im Kleiderschrank, aber eben noch nicht dieses eine Modell. Außerdem habe ich es vorher durchgerechnet: Ich werde die Jacke nächstes Jahr und die darauffolgenden Winter wieder und wieder tragen. Und weil sie schlicht und simpel ist, passt sie auch einfach zu allem. Unterm Strich? Die Investition lohnt sich. 

Abgesehen davon: Ich musste bei einem anderen Kauf in Vorkasse treten, habe die Bestellung retourniert und bekomme noch eine Rückzahlung. Dieses Geld ist sowieso nicht mehr auf meinem Konto und kann gleich reinvestiert werden, sodass es sich beinahe so anfühlt, als würde ich die Jacke günstiger bekommen. 

Lass mich raten: Du schüttelst gerade entweder den Kopf oder dir ist diese geniale Rechnung durchaus geläufig? In jedem Fall haben wir hier gerade "Girl Math" gemacht.

Großer Quatsch oder ziemlich genial: Was ist "Girl Math"?

Was für den einen jetzt komplett verwirrend und unlogisch klingen mag, ist meine Herangehensweise, mit der ich seit Jahren finanzielle Anschaffungen schönrechne. Der psychologische Trick hat sogar einen Namen: "Girl Math" nennt es sich, wenn eine Argumentation den Kauf günstiger, gratis oder sogar profitabel erscheinen lässt. Ein Phänomen, das der Social-Media-Plattform TikTok entspringt, dort bereits über 500 Millionen Views hat und junge Frauen dazu animiert, ihre persönlichen Ausgaben und ihre teilweise wahnwitzigen Rechtfertigungen für diesen Kauf auf humoristische Art und Weise zu teilen. Wenn ich eine Woche New York buche und schon im März alles bezahle, kostet mich die Reise im November, wenn ich die Stadt besuche, nichts mehr. Dort brauche ich dann nur Geld für Essen, Trinken und Co., was ich auch zuhause ausgeben würde – logisch, oder?

Geht die Rechnung mit "Girl Math" auf?

Angesichts aktueller Debatten über den Gender Pay Gap oder dem, was Feminismus ist und darf und was eben nicht, frage ich mich: Kann ich "Girl Math" zu meinem Mantra machen oder befeuert der Social Media-Trend lediglich ein ganz bestimmtes Klischee, das nicht nur ich nicht mehr hören kann? Nämlich: Frauen können nicht mit Geld umgehen. Zwar steht auch Männern nichts im Wege, ihre finanziellen Entscheidungen mit "Girl Math" zu verteidigen, allerdings richtet sich der Begriff zweifelsohne an Frauen – junge Frauen, die ihre Finanzen einfach nicht im Griff haben sollen. Die Stigmatisierung von Frauen und Geld könnte somit neues Futter bekommen – oder etwa nicht?

Elizabeth Plank, ehemalige Forscherin und Beraterin für Verhaltenswissenschaften an der London School of Economics, findet eine Antwort, die durchaus zeigt, dass "Girl Math" tiefgründiger ist, als auf den ersten Blick angenommen: 

"Verhaltensökonomie leistet das, was die traditionelle Ökonomie nicht leisten kann, nämlich die Berücksichtigung der Vielzahl von Faktoren, die in unsere finanziellen Entscheidungen einfließen. Das ist genau das, was auch 'Girl Math' tut."

Ach was? Alles gar nicht so verkehrt, oder wie? Kehren wir noch einmal zurück zu meinem Jackenkauf. Eine Info fehlte noch: Ich habe bei ihrer Bestellung den Versand eingespart. Klasse, oder? Den Mindestbestellwert von 100 Euro übertraf die Jacke nämlich um Längen. Auch so eine Logik von "Girl Math": So viel ausgeben, bis der Versand umsonst ist. Laut Plank nachvollziehbar: "Das Konzept der hyperbolischen Diskontierung besagt, dass unser Gehirn eine kurzfristige Belohnung, die kleiner ist, einer späteren größeren Belohnung vorzieht. Der Gedanke, dass ich bei den Versandkosten spare, gibt mir also ein besseres Gefühl." Es geht bei "Girl Math" nicht um Mathematik, es geht um Emotionen, die rational begründet werden sollen.

Mit "Girl Math" zur Capsule Wardrobe

Wer über die sogenannte Mädchenmathematik immer noch schmunzelt, der liest lieber weiter. Die studierte Verhaltensökonomin Plank erklärt nämlich auch, manche Rechnungen aus den Sozialen Medien seien sogar "schlaue Mathematik". Ein Beispiel gefällig? "Die Vorstellung, dass ein Kleid für dreißig Euro nur fünf Euro kostet, wenn man es sechsmal trägt – das sind einfach die Cost per Wear (übersetzt = die Kosten pro einmaligem Tragen). Dahingehend kann Girl Math sogar richtig hilfreich sein." 

Ha, ich wusste es doch! Wie oft trage ich dieses Kleidungsstück wirklich? Rentiert sich der Betrag, den ich jetzt investiere? Das sind clevere Fragen, die ich mir vor meinem Kauf stelle und stellen sollte. Liz Plank bewertet das Ganze wie folgt: 

"Der Kauf von Kleidungsstücken mit einem höheren CPW-Wert ist eine der effektivsten Möglichkeiten, sich einen nachhaltigeren Kleiderschrank zuzulegen und den ökologischen Fußabdruck zu minimieren." 

Aha, die Strategie zur Rechtfertigung von Käufen hat also auch ihre Vorzüge. Dazu zählt der Expertin zufolge auch die kognitive Voreingenommenheit, derer wir uns bewusst werden. Wer glaubt, "Girl Math" ist Finance für Dummies, der wird hier eines Besseren belehrt. Das Ganze mache uns nicht dümmer, sondern zu klügeren Verbraucherinnen und weniger anfällig für aggressives Marketing, Schemata und Taktiken, mit denen man unsere Heuristiken (also mentale Strategien, die uns helfen, schnell und zeitnah Entscheidungen zu treffen) ausnutze.

Entziehen wir uns unserer Verantwortung?

Bei so viel positiver Kritik muss es einen Haken geben? Du weißt wohl, wie das Leben läuft. Trotz dieser Vorteile und dem Spaß, den die Userinnen mit dem Trend haben, will ich "Girl Math" und ihre Auswirkungen auf das Kaufverhalten junger Menschen nicht unterschätzen. FCM Finanz Coachin® Nina Leder hat einen ähnlichen Gedanken:

 "Ich gehe davon aus, dass die 'Girl Math'-Trendsetterinnen sich dem Risiko nicht bewusst sind, dass es sich hier um impulsives Verhalten handelt, getriggert durch die Schnelllebigkeit der Sozialen Medien."

Die persönliche Risikobereitschaft zu kennen bzw. zu reflektieren 'wie gehe ich mit einem Risiko um?', sei laut der Expertin für solche finanziellen Entscheidungen essenziell – auch im Kontext von Social Media.

Dem kann ich nur zustimmen und hinzufügen: Den Überblick über seine Finanzen zu haben, ist nicht nur fürs Konto wichtig, es stärkt auch ungemein das Selbstbewusstsein. Ich halte mich deshalb trotz "Girl Math" an meine Budgettöpfe und shoppe nur so viel, wie es der Anteil für kurz- und mittelfristige Investitionen wie meine geliebte Daunenjacke zulässt. 

Summa summarum: Ein bisschen "Girl Math" schadet nicht

Auch wenn meine Expertise nicht im Bereich der Finanzen, sondern der Mode liegt, bin ich der Meinung: Wer beim Geldausgeben das Internetphänomen befolgt, sollte sein Kaufverhalten hinterfragen und sich die Ironie des Trends vergegenwärtigen. Mit dem Klischee "Frauen können nicht mit Geld" wird bei "Girl Math" gespielt und dieses stark überspitzt dargestellt. Die negative Konnotation des Begriffs und dass er mit Naivität, Verantwortungslosigkeit und Unreife assoziiert wird, ist Userinnen wie mir durchaus bewusst. Dass Geld verdient wird, wenn ich ein teures Kleidungsstück zurückgebe oder der Kaffee umsonst ist, sollte ich in bar und nicht mit meiner Bankkarte bezahlen, ist Quatsch. Um das zu wissen, kann ich auch eine Frau sein und Mädchenmathe zelebrieren.

Verwendete Quellen: TikTok, Interview