
Wir verlieren jeden Tag etwa 70 bis 100 Haare. Das ist völlig normal und doch kommt es den meisten von uns wahrscheinlich wahnsinnig viel vor. Das ging mir auch so. Seit meiner Brustkrebs-Diagnose im Juni dieses Jahres und dem Beginn der Chemotherapie vor drei Monaten weiß ich allerdings: 70 bis 100 Haare sind gar nichts! Denn nun habe ich mehrfach am Tag kleine Büschel in der Hand. Haare kämmen? Macht wirklich traurig. Sich lässig durch die Haare fahren? Nicht ohne Verluste. Haare waschen? Jedes Mal eine mentale Grenzerfahrung.
Ich will nur eines wissen: Verliere ich jetzt meine Haare?
Einmal kurz zurückgespult: Es ist der 13. Juli 2023 – ich habe einen Termin bei meinem Onkologen. Ich warte darauf, dass ich erfahre, wie wir diesen Feind in mir besiegen. Ich rechne mit einer Operation und das war’s. Stattdessen fällt dieses eine Wort, von dem ich so wahnsinnige Angst hatte: Chemotherapie.
Es ist allerdings nicht die Sorge vor den möglichen Nebenwirkungen, die mich so lähmt. Es ist vor allem die große Angst vor den optischen Veränderungen, die damit unweigerlich einhergehen. Meine erste Frage an den Onkologen ist deswegen auch nicht, ob mir die ganze Zeit übel sein wird, sondern ob ich meine Haare verlieren werde. “Ja, diese Form der Chemotherapie greift die Haarwurzeln an.“ BÄM! Das sitzt!
Ab dem Moment kann ich an nichts anderes denken – eine junge Frau mit offensichtlicher Chemo-Glatze, die mir 30 Minuten später beim Verlassen des Krankenhauses entgegenkommt, löst deswegen auch einen kleinen Zusammenbruch in mir aus. Diese junge Frau sieht fantastisch aus, hat ein freundliches Lächeln auf den Lippen und strahlt so viel Zuversicht aus – doch alles, was ich sehe, ist ihr völlig kahler Kopf.
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Werde ich es auch schaffen, mit einem Lächeln vor die Haustür zu treten? Werden mich die Leute anders behandeln, wenn sie mir meine Krankheit ansehen können? Und wie wird sich mein Alltag dadurch verändern? So viele Fragen, so viele Sorgen und fast immer die gleiche Antwort aus meinem Umfeld: “Es sind doch nur Haare, die wachsen wieder nach.“ Rein rational betrachtet ist dem so – ganz klar! Und trotzdem sind Haare nicht nur Haare.
Sie sind Ausdruck unserer Persönlichkeit und definieren optisch, wer wir sein möchten. Früher wurden Haare gelockt, gepudert oder toupiert, um Wohlstand zu symbolisieren, heute verpassen wir uns einen perfekten Blowout, um trendy zu sein. Haare sind einfach immer da, eine sichere Bank und für uns ganz selbstverständlich. Bis sie dann plötzlich ausfallen …
Gibt es Hoffnung? Nein, nicht für mich!
Aber müssen sie das unbedingt? Mein Onkologe empfiehlt mir die sogenannte Kühlkappen-Therapie, um meiner Mähne zu retten – und ich würde einfach alles tun! Dabei wird die Kopfhaut während der Chemotherapie auf etwa vier Grad Celsius herunter gekühlt – mit dem Ziel, den Stoffwechsel der Haarfollikel so stark zu verlangsamen, dass das Chemogift sie nicht mehr angreifen kann. Laut Statistik funktioniert das bei etwa 70 Prozent der Patientinnen recht erfolgreich. In meinem Fall ist der Plan nicht aufgegangen.
Die ersten drei Wochen nach Beginn der Chemotherapie tut sich noch nicht viel. Doch irgendwann fällt der stumme Startschuss. Ich stehe unter der Dusche, wasche mir die Haare und habe plötzlich den ersten Büschel in der Hand. Einen weiteren ziehe ich wenige Minuten später aus dem Abfluss. Harter Tobak! So wird es ab jetzt weitergehen. Haar für Haar, Büschel für Büschel und mein Kopf, der immer nackter wird.
Neben dem Haarausfall machen mir Kopfschmerzen und Kreislaufschwäche unter der Kühlkappen-Behandlung zusätzlich das Leben schwer und auch mental geht irgendwann nichts mehr: Der bloße Gedanke an diese eiskalte Haube auf meinem Kopf, die sich für mich anfühlt, als hätte ich sechs Stunden am Stück Hirnfrost wie nach dem Verzehr eines zu großen Stückes Eiscreme – ein Albtraum. Die einzige Konsequenz für mich: Abbruch!
Ich habe das Gefühl, versagt zu haben
Dass ab jetzt kein Weg mehr an der Chemoglatze herbeiführen würde, ist mir in diesem Moment vollkommen egal. Und doch habe ich hin und wieder das Gefühl, versagt zu haben. Warum war ich nicht so stark wie die anderen Frauen und habe es einfach durchgezogen? Andererseits: Ich mache gerade so viel durch. Alles, was nicht medizinisch notwendig ist und mir mental und körperlich mehr schadet als guttut – weg damit! Ich muss mir das Leben nicht noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist. Oder?
Mittlerweile habe ich über die Hälfte der Chemotherapie geschafft. Einen Zopf kann ich längst nicht mehr machen. Es reicht eine Kinder-Haarklammer, um die kleine Mini-Strähne an meinem Hinterkopf zu befestigen. Dazu kommen viele kahle Stellen, die sich nicht mehr verstecken lassen. Ab jetzt sehe ich krank aus. Dass dieser Zustand auf meinem Kopf nicht gesund sein kann, ist nun für jeden sichtbar. Ich fühle mich hässlich, unweiblich und möchte mich am liebsten komplett verkriechen, von der Außenwelt abschotten – niemand soll mich so sehen.
Ich möchte selbst entscheiden, wem ich meine Erkrankung optisch offenbare
Doch das kann ich nicht zulassen, wenn ich an meinem Alltag weiter festhalten möchte. Ich versuche mich deswegen, so gut es geht, mental zu wappnen, habe früh vorgesorgt und mir bereits zu Beginn der Chemotherapie eine Perücke anfertigen lassen. Mein einziger Anspruch: eine Perücke, die mir das Gefühl gibt, noch ich sein zu können. Denn nach außen möchte ich den Schein einer gesunden jungen Frau wahren können, wann immer mir danach ist. Ich möchte nicht, dass der Krebs zu viel Platz in meinem Alltag einnimmt und zum alleinigen Gesprächsthema wird. Die Perücke soll mir ein Stück Normalität erhalten und mir die Möglichkeit geben, ganz allein und bewusst steuern zu können, wem ich meine Erkrankung optisch offenbare.
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Einfach ist es deswegen trotzdem nicht. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich zwar diese perfekte angepasste Mähne und doch fühle ich mich fremd. Das bin nicht ich, das sind nicht meine Haare. Sehen das auch alle anderen? Kann jeder erkennen, dass ich eine Perücke trage? Sehe ich immer noch krank aus? Ich schäme mich manchmal dafür, dass ich dieser “doch nur“ kosmetische Nebenwirkung der Chemotherapie erlaube, so viele Unsicherheiten in mir auszulösen. Sollten Haare vielleicht doch einfach nur Haare sein?
Wenn die Chemo dir `ne Glatze verpasst, mach `ne geile Perücke draus
Es nützt nichts – ich versuche mich, mit meinem bald ganz nackten Kopf zu arrangieren. Ein neuer Termin in einem Perücken-Studio soll mir deswegen jetzt den Traum der ultimativen Cinderella-Mähne erfüllen. Wie wäre es mit Haaren bis zum Bauchnabel? Oder vielleicht ein frecher Bob in Blond? Auch wenn ich meine Start-Schwierigkeiten mit dem Thema Perücke habe, so ist es doch ein Accessoire, das ich lieben lernen möchte. Und wer weiß? Vielleicht werde ich meine Perücken auch noch tragen, wenn meine eigenen Haare längst wieder nachgewachsen sind. Zu Cinderella-Haaren sagt schließlich keiner nein, oder?
P.S.
Meinen Freunden habe ich by the way verboten, mir zu sagen, dass meine Haare irgendwann wieder nachwachsen werden. Ich weiß, sie meinen es nur gut. Aber hören möchte ich das gerade nicht. Zumindest nicht, so lange Haare kämmen, sich lässig durch die Haare fahren und Haare waschen eine solche Belastungsprobe sind. Wenn ich allerdings irgendwann mit Chemoglatze, einem Lächeln auf dem Gesicht und einer Gute-Laune-Ausstrahlung das Krankenhaus betrete, dann bin ich vielleicht empfänglich dafür.